Vögel, Säugetiere und Insekten bilden Gesellschaften, «ZIvilisationen». Aber Einzelgänger wie Tintenfische?
Wie viele meiner Kollegen glaubte ich, dass Tintenfische ganz solitär leben, abgesehen von der Paarung gegen Ende ihres kurzen Lebens, das bis zu drei Jahre dauert. Von ihrem ersten Lebenstag an sind sie völlig auf sich allein gestellt. Ich habe mich immer gefragt, wie sie ohne soziale Interaktionen ein so hohes Mass an Intelligenz erreichen können.
Voranzeige: Der Naturfilmer Hannes Jaenicke berichtet in seiner Sendung auf ZDF am 16. September 2025 über die Bedrohung der Tintenfische (Oktopoden) und über illegale Fangmethoden.
«Hannes Jaenicke: Im Einsatz für den Oktopus» 16. ZDF, 16.09.2025 um 22:15 Uhr (ab 10.09.2025 auch in der ZDF-Mediathek)
Kraken (Oktopoden) sind in ihrem natürlichen Lebensraum nicht leicht zu beobachten. Sie sind Meister der Tarnung, des Versteckens und der Flucht, und die Zeit, die Taucher unter Wasser verbringen können, ist begrenzt. Das erstaunliche Verhalten und die Fähigkeiten von Kraken sind zwar bekannt, aber was sie in freier Wildbahn wirklich tun, scheint uns teilweise noch verborgen zu bleiben.¨
Wenn Einzelgänger gemeinsame Sache machen
Erst kürzlich hab ich erfahren, dass Meeresbiologen vor einigen Jahren, 2009 und 2017, vor der Ostküste Australiens Tintenfische entdeckt haben, die eine «Zivilisation» bilden. Faszinierend! Dutzende von Kraken der Art Octopus tetricus, die zusammenleben und gemeinsame Behausungen bauen, mit Eingängen, Mauern aus Steinen und Barrikaden aus Muscheln. Die Forscher beobachteten, dass einige Tiere sich den Raum teilen, andere sich gegenseitig bestehlen oder unliebsame Nachbarn mit Gegenständen bewerfen. Einige Kraken produzierten auf ihrer Haut komplexe Farbmuster, was die Forscher als Kommunikation zum Verhandeln und Streitschlichten interpretierten [1] [2] [3]. In einer anderen Studie wurde beobachtet, dass weibliche Kraken manchmal aufsässige Männchen mit Schlamm bewerfen – auch das ein Zeichen zivilisierten Verhaltens! [4]
Was ausser der Paarung könnte vermeintliche Einzelgänger motivieren, sich mit Artgenossen zusammenzutun? Knappheit an Nahrung kann zu gemeinsamem Jagen führen, Mangel an natürlichen Verstecken zu gemeinsamem Bauen, und zunehmende Bedrohung durch Fressfeinde dazu, Schutz in der Gruppe zu suchen. Aber vielleicht gibt es weitere Gründe dafür, dass zumindest eine Krakenart Gesellschaft unter Ihresgleichen sucht. Further research is needed, wie es in wissenschaftlichen Studien so schön heisst; und ja, vor allem unter der Meeresoberfläche bliebt uns manches noch verborgen.
Ohne Bewusstsein kaum vorstellbar
Die aus Menschensicht erstaunlichen kognitiven und sozialen Fähigkeiten von Tieren sind kaum verständlich, ohne dass Tieren auch die Fähigkeit zugesprochen wird, ihre Umwelt und sich selbst bewusst wahrzunehmen. Das gilt auch für Tintenfische, wie zahlreiche Studien zeigen. In einem kürzlich publizierten Experiment [5] zum Beispiel wurde Kraken in einer von ihnen stets bevorzugten Aqarienkammer ein Schmerz zugefügt. Nach Verabreichung eines Schmerzmittels wurden sie in eine benachbarte Kammer gesetzt, in der sie trotz Schmerzlosigkeit blieben. Die Forscher schliessen daraus, dass die Kraken nicht nur auf Schmerz reagiert, sondern auf die Wahl der zuvor bevorzugten Kammer bewusst verzichtet haben, genauer: weil sie den Schmerz bewusst wahrgenommen hatten. Für die noch immer stark auf Schmerz verengte Tierschutzdebatte ist bewusste Schmerzwahrnehmung sozusagen der Lackmustest für das Vorhandensein von Bewusstsein.
Immerhin hat die Erkenntnis, dass Tintenfische Schmerzen bewusst empfinden, dazu geführt, dass sie nun vermehrt in den Geltungsbereich von Tierschutzgesetzen eingeschlossen werden, so etwa in der Schweiz [7], in Grossbritannien [8] und wenigstens bei Tierversuchen in der EU [9].
Schon eine 2018 publizierte Studie [6] kam zum Schluss, dass die Klasse der Kopffüsser (Cephalopoda), zu der die Unterklasse der Tintenfische (Coleoidea) gehört, ein «ausgeprägtes Verhaltensrepertoire, höhere Lernfähigkeiten und kognitive Fähigkeiten aufweisen». Die Autoren kamen zum Schluss, dass der «Hirnstrang der Kopffüsser als analog zum Vorderhirn und Mittelhirn der Wirbeltiere und die Fuss- und Pallioviszeralstränge im Gehirn der Kopffüsser als vergleichbar mit ihrem mutmasslichen Äquivalent bei Wirbeltieren: dem Rückenmark und dem Hinterhirn» verstanden werden können, auch wenn noch die Frage offen bleibe, wie sich das Gehirn von Kopffüssern entwickelt habe und inwieweit es möglich sei, eine Entsprechung bei Wirbeltieren zu identifizieren.
Und wenn das Gehirn fehlt?
Kopffüsser sind inzwischen zu einem Archetyp für die Erforschung der kognitiven Fähigkeiten, des Empfindungsvermögens, der Persönlichkeit und des Wohls von wirbellosen Tieren geworden, stellten Wissenschafter 2019 in einem Sammelband fest, der sich der Frage nach dem Tierwohl von Wirbellosen widmet: Insekten, Spinnen, Korallen, Krebse und eben Cephalopoden [10].
Aber wie sieht es für Tiere aus, die über gar kein Gehirn verfügen? Die sesshaften Stern.Seescheiden (Botryllus schlosseri), die in Kolonien am Meeresboden leben, verbringen ihre Jugend schwimmend an der Meeresoberfläche, bevor sie sich nebst Artgenossen felsigem Grund niederlassen. Einmal hier angekommen, lösen sie eines ihrer beiden Gehirne auf, das für die Navigation im Wasser wichtig war und nun nur noch als Rohstoff für den eigenen Körperaufbau dient. Eine Studie zeigte, dass einige der für diesen Vorgang verantwortlichen Gene jenen ähnlich sind, die zur Zersetzung des Gehirns beim alternden Menschen führen können [11].
Aus Berichten von Angehörigen wissen wir, dass Alzheimer-Patienten sozusagen in einer anderen Welt leben; ist ihr Bewusstsein getrübt oder ist es einfach anderswo? Als Menschen sind wir stolz auf unser Gehirn und beginnen die kognitiven Fähigkeiten von anderen Tieren zu bewundern, gerade auch von Tintenfischen mit ihrer hochkomplexen neuronalen Struktur, in der jeder Arm über ein separates gehirnähnliches Organ verfügt, das bei Abtrennung des Arms noch eine Weile weiter funktioniert. Interessant in diesem Zusammenhang ist eine Studie, in der jüngst gezeigt wurde, dass die Darstellung des menschlichen Körpers im Gehirn stabil bleibt, auch wenn ein Körperteil verloren gegangen ist [12].
Ist Bewusstsein zwingend an ein Gehirn gebunden? Ist es sinnvoll, den Geltungsbereich von Tierschutzgesetzen auf jene Tiere zu beschränken, die nach unserem Verständnis zu hohen kognitive Leistungen fähig sind? Ist nicht grundsätzlich jede Lebensform schützenswert und auf Wohlsein ausgerichtet, auch dann, wenn wir ihr ein Bewusstsein in unserem Verständnis absprechen?
Titelillustration:
Common Sydney Octopus Octopus tetricus (credit: Niki Hubbard / Wikimedia Commons)
Referenzen:
[1] Octlantis: Where octopuses buck tradition and live in groups, https://www.popsci.com/octlantis-octopus-groups/
[2] A second site occupied by Octopus tetricus at high densities, with notes on their ecology and behavior, https://www.tandfonline.com/eprint/SuKqGmXPA8zJdrkjkSRE/full
[3] Octopus ‘City’ Found Off the Coast of Australia, https://www.smithsonianmag.com/smart-news/octopus-city-observed-180964936
[4] Female octopuses observed throwing stuff at males harassing them, https://phys.org/news/2021-08-female-octopuses-males.html
[5] Behavioral and neurophysiological evidence suggests affective pain experience in octopus, https://www.cell.com/iscience/fulltext/S2589-0042(21)00197-8
[6] Cephalopod Brains: An Overview of Current Knowledge to Facilitate Comparison With Vertebrates, https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC6062618
[7] Nicht alle Tiere sind geschützt!, https://www.tierimrecht.org/documents/3857/14_TIR_ID19.pdf
[8] Octopuses, crabs and lobsters to be recognised as sentient beings under UK law following LSE report findings, https://www.lse.ac.uk/news/latest-news-from-lse/k-november-21/octopuses-crabs-and-lobsters-welfare-protection
[9] Cephalopod research and EU Directive 2010/63/EU, Journal of Experimental Marine Biology and Ecology 447 (2013) 31–45 – aber kritisch dazu: Cephalopod Welfare In The E.U. And Beyond, https://faunalytics.org/cephalopod-welfare-in-the-e-u-and-beyond/
[10] Claudio Carere, Jeniffer Mather (Ed., 2019): The Welfare of Invertebrates. Springer Nature Switzerland, https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-030-13947-6
[11] What can sea squirts tell us about neurodegeneration?, https://med.stanford.edu/news/insights/2022/07/what-can-sea-squirts-tell-us-about-neurodegeneration.html
[12] The brain’s map of the body is surprisingly stable — even after a limb is lost, https://www.nature.com/articles/d41586-025-02686-5
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